Die Atmosphäre des Mülls

Spielkarte aus der Publikation »Ins Offene – Kultur der Vielfalt gestalten«

Dirt is powerful (Rosie Cox)

 

Ich liebe Müllkunst. Aber diese Liebe bei anderen zu erwecken, so wie jetzt bei dir liebe:r Leser:in, fiel mir nicht immer leicht. Denn ich will ehrlich sein, die Arbeit mit Müll hat viele Nachteile. Wenn ich mit Gruppen ein Müllkunstprojekt starte, kommt es durchaus vor, dass der wunderbare Müll, den ich mitgebracht habe, nicht als Material angenommen wird. Denn Viele sind es gewohnt, mit Materialien zu basteln, die extra zu diesem Zweck produziert wurden: Wackelaugen, Pfeifenputzer, Tonpapier. Der Umgang mit diesen Dingen ist vertraut, sie enthalten bereits Anweisungen, bekannte Umgangsweisen.

 

Während ein Joghurtbecher erst aus seiner alten Funktion heraus und umgedacht werden muss. Klar Upcycling erfreut sich hoher Beliebtheit, doch bei solchen Projekten gibt es meist einen festen Rahmen, eine verständliche Anleitung wie aus diesem Autoreifen ein schicker Sitzhocker werden soll.

Ich habe die Erfahrung gemacht, ein Müllprojekt offener zu gestalten und sich ins Unbekannte zu stürzen, erfordert Mut. Denn eigene Ideen und Umgangsweisen zu entwickeln, das kann Teilnehmende und auch anleitende Personen im ersten Moment überfordern. Außerdem ist Müll widerspenstig. Probiert mal Plastik zu zerschneiden – das macht echt keinen Spaß. Und von der Lagerung ganz zu schweigen. Ich prophezeie euch Streitgespräche mit Mitbewohner:innen und Mitarbeiter:innen, je nachdem welche Räume ihr anfangt zu besetzen und zuzustellen, denn Mensch weiß ja nie, in was sich dieser alte Fahrradschlauch mal verwandeln könnte.

 

Die perfekte Überleitung, um der Frage nachzugehen:

 

Was ist Müll überhaupt?
Müll wird nicht als Müll produziert. Müll ist erst Verpackung, Zahnbürste, geliebtes Kuscheltier. Wenn wir keinen Wert mehr in einem Gegenstand erkennen, erst dann entsteht Müll. Unsere eigene Wahrnehmung von Materialien produziert also Abfall. Wie wir diesen Abfall wahrnehmen, ist abhängig von unseren sozialen Erfahrungen und kulturellen Bewertungen. Die Verhältnisse zum Müll können sich entsprechend stark voneinander unterscheiden (vgl. Lewe/Othold/Oxen 2016, 20).

 

Die Kulturwissenschaftlerin Rosie Cox (2016) beschreibt in ihren Arbeiten wie soziale Kategorien wie race, class und gender durch materielle sowie symbolische Nähe und Distanz zu Müll strukturiert werden. Sie stellt die Frage:

 

Wer muss die Drecksarbeit machen?
Bis heute sind überwiegend migrantisierte Frauen und Women of Color als Putz-, Haushalts- und Pflegekräfte tätig. Unsere Vorstellungen von Ordnung und Hygiene sind historisch an rassistische und klassistische Praktiken und Denkweisen gebunden. Cox weist darauf hin, dass der Umgang mit Abfall durch die sanitären Reformen des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr ins Private verschoben und auftretende Probleme als moralisches Versagen der ärmeren Bevölkerungsgruppen gedeutet wurden. Sauberkeit wurde zu einer Norm und einem Status der Arbeiterklasse, für die individuelle Verantwortung übernommen werden musste (vgl. Cox 2016, 97 ff.). Bis heute fungiert Müll als ein Strukturfaktor gesellschaftlicher Ungleichheiten (vgl. Moisi 2018, 1 ff.).

 

»Indem Künstler Abfall, also das aus der Ökonomie Ausgeschlossene, in ihre Werke und Installationen integrieren, erreichen sie zweierlei: Sie bauen eine andere Ökonomie auf und zwingen den Betrachter, die Außengrenze seiner symbolischen Sinnwelt zu überschreiten und sich das System Kultur mit seinen Mechanismen der Entwertung und Ausgrenzung bewusst zu machen.« (Assmann 1999, 384)

 

Die Infrastruktur der westlichen Welt ist darauf ausgerichtet, unseren Müll zu verdrängen und an die äußeren Ränder oder gar auf andere Kontinente abzuschieben. Doch wir werden in den kommenden Jahrzehnten mit den Folgen unseres Konsums konfrontiert werden. Wir werden gezwungen sein, unser Verhältnis zu Müll, unser grundsätzliches Verhältnis zu Materialitäten zu verändern. Die Kunst bietet dafür einen geeigneten Übungsplatz. Doch auch Abseits von diesen großen Versprechungen in der Kunst, ökologische und soziale Bildungsprozesse zu initiieren und nach vorne zu treiben, bietet Müll als Material Vorteile.

 

Denn mit den eigenen Ansprüchen nachhaltiger zu leben im Nacken, wiegt das Gewissen schwer, wenn Bastelprojekte und Produktionen in Materialschlachten enden. Müll hingegen, lässt sich fantastisch verschwenden. Mir zumindest fällt es leichter, auszuprobieren und frei zu experimentieren, wenn ich mein Material aus der Tonne geholt habe.

 

Müllkunst bedient eine Ästhetik der Neugierde (vgl. Bianchi 2004, 34 – 45). Die Beschaffung des Materials, also des Mülls an sich, verlangt bereits eine Haltung der Kunstschaffenden, die überall potenzielle Schätze vermutet. An jeder Sperrmüll-Ecke, in jedem Park, auf Baustellen und Garagenflohmärkten wartet der Zufall auf uns.

 

Menschen öffnen ihre Haustüren für dich, damit du ihre alten Möbel entsorgst. Du brauchst nur etwas sehr Großes oder Ungewöhnliches durch die Stadt zu schleppen, um angesprochen zu werden. Schon die Beschaffung des Materials führt oft zu witzigen Begegnungen, Orten und Momenten der Irritation.

 

Müll ist umsonst.

Literatur

Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck.

 

Bianchi, Paolo (2004): Müll. Der Schatten der Kunst, in: Kunstforum Bd. 168, Ruppichteroth: Kunstforum International, S. 34-45.

 

Cox, Rosie (2016): Cleaning up. Gender, Race and Dirty Work at Home, in: Lewe, Christiane/Othold, Tim/Oxen, Nicolas (Hrsg.): Müll. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene, Band 87, Bielefeld: transcript, S. 97-116.

 

Moisi, Laura (2018): Müll als Strukturfaktor gesellschaftlicher Ungleichheitsbeziehungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, bpb.de, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/281505/muell-als-struktur (Zugriff: 09.06.23).

 

Samida, Stefanie/Eggert, Manfred K.H./Hahn, Hans Peter (Hrsg.) (2014): Materialität, in: Materielle Kultur. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Springer, S. 226-371.

 

Tittel, Claudia (2016): Szenarien des Mülls. Von Schrott, Abfall und anderen symbolischen Ordnungen des Ausrangierten, in: Lewe, Christiane/Othold, Tim/Oxen, Nicolas (Hrsg.): Müll. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene, Bd. 87, Bielefeld: transcript, S. 171-198.