Die Vermessung der Welt – Ein Exkurs

Spielkarte aus der Publikation »Ins Offene – Kultur der Vielfalt gestalten«

Nach dem relationalen Ansatz von Martina Löw (2012) ist Raum nämlich nicht per se als eine Art Behälterraum vorhanden, sondern wird erst durch bestimmte soziale Praktiken hergestellt. Löw versteht Raum als »eine relative (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern« (Löw 2012, 159 f.). So werden Räume durch die Relation von Menschen und sozialen Gütern aktiv hergestellt. Sie können Zugangschancen und Ausschlüsse steuern und zu Auseinandersetzungsfeldern im Kampf um Anerkennung werden, wie zum Beispiel in der geschlechterspezifischen räumlichen Zuordnung oder in den differenzierenden Zugängen von Menschen in besonderen Lebenslagen zum öffentlichen Leben.

 

Bei sozialen Gütern kann es sich einerseits um materielle Güter, wie zum Beispiel Gebäude, Mobiliar und andere Alltagsgegenstände handeln, andererseits aber auch um symbolische Güter wie Werte, Normen oder ähnlich. So zeigt zum Beispiel ein Ortschild den Beginn eines umschriebenen Territoriums an. Ebenso kann eine bestimmte Art sich zu kleiden, eine religiöse Haltung und entsprechende Normen und Werte transportieren.

Ausgangspunkt ihrer raumsoziologischen Überlegungen ist für Löw (2012) die Kritik an herkömmlichen Vorstellungen vom Raum als Container. Für sie ist Raum nicht einfach nur eine Kulisse, vor der sich soziales Handeln abspielt, sondern Raum ist in permanenten Verweisungs- und Bezugszusammenhängen einbegriffen (vgl. Löw 2005, 265). Damit nimmt sie das Wie, das heißt die sozialen Praktiken, in denen Räume hergestellt werden, mehr in den Blick. Wenn Raum nämlich nur als Hintergrund verstanden würde, vor dem sich soziales Handeln abspielt, geraten soziale Praktiken, in denen Räume konstituiert werden, aus dem Blick und Analysen sozialen Handelns und seiner strukturellen Bedingungen greifen insofern zu kurz, als sie auf dem räumlichen Auge blind bleiben.

 

Entsprechend unterscheidet Martina Löw nicht zwischen materiellem und sozialem Raum, weil das eine nicht unabhängig vom anderen existiert, sondern sie geht vom sozialen Raum aus, der durch materielle und symbolische Komponenten gekennzeichnet ist. Räume entstehen jedoch in keiner Weise beliebig, denn Menschen handeln in der Regel repetitiv (»man macht«) und verfügen über Handlungsrepertoires, die sie gewohnheitsmäßig anwenden und in die gesellschaftliche Normen und Werte eingeschrieben sind. Menschen »haben ein Set von gewohnheitsbedingten Handlungen entwickelt, welches ihnen hilft, ihren Alltag zu gestalten« (Löw 2012, 161). Dies äußert sich auch in der Gestaltung von Einrichtungen. Es wiederholen sich immer gleiche (An)Ordnungen, ob in Innenstädten, Privaträumen oder Institutionen. Hier zeigt sich die Verallgemeinerbarkeit bzw. Institutionalisierbarkeit von Räumen. Löw weist darauf hin, dass Geschlecht und Klasse – sie nennt sie Strukturprinzipien, weil sie alle gesellschaftlichen Strukturen durchziehen – einen großen Einfluss darauf haben, wie Räume von Menschen gestaltet und wahrgenommen werden. Sie argumentiert hier in Anschluss an das Habitus-Konzept von Bourdieu. Ein abgegrenzter Innenraum, eine spezifische Materialität, wird erst durch bestimmte Wahrnehmungen, Deutungen und Erinnerungen als Raum des Privaten identifiziert. Die Deutung eines Ortes und die bauliche Gestaltung basieren auf bestimmten Raumvorstellungen bzw. Normen, den damit zusammenhängenden Syntheseleistungen, oder auch auf bestimmten Tätigkeiten, Konnotationen, Ideen und Funktionen, die kulturgeschichtlich-gesellschaftlich geprägt sind. Es gibt nicht den Raum, sondern viele Räume, die durchaus gleichzeitig und vielgestaltig nebeneinander her existieren können, je nachdem, wie sie von Menschen wahrgenommen und gestaltet werden.

 

Mit der Fotoserie der sogenannten »Körperkonfigurationen« entstand 1972 eine der bekanntesten frühen Fotoarbeiten von Valie Export. Geometrische Strukturen der Architektur werden mit dem weiblichen Körper nachgezeichnet, vermessen und verbunden: Stein und Körper, hart und weich, starr und biegsam, unveränderlich und verletzlich. Für den Körper wird die Architektur nicht als Gegenüber, sondern als Struktur verstanden. Sie wirkt auf den Körper ein bzw. das Soziale zieht in den Körper ein – das wird deutlich in Gestik, Haltung, Handlungsweisen, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata.

 

Räumliche Ordnungen werden nicht nur sozial produziert und konstruiert, sondern reproduzieren gesellschaftliche Strukturen. Gebauter Raum kann also nicht auf seine »objektive« Materialität und eine daraus abgeleitete gesellschaftliche Wirkungsmacht reduziert werden. Vielmehr spiegeln gesellschaftliche Institutionen und gebaute Räume immer auch gesellschaftliche Machtverhältnisse und die damit zusammenhängende symbolische Ordnung wider, die im Zusammenspiel mit den verinnerlichten sozialen Strukturen im Habitus ihre Wirksamkeit entfalten.

 

Valie Export stellt mit ihrer Arbeit Fragen nach den machtdurchtränkten Strukturen öffentlicher Räume: Wie könnten diese unsichtbaren Machtformen, die den öffentlichen Raum sowie seine Bewohner:innen beherrschen, sichtbar gemacht werden? Der Körper unterwirft sich der Architektur, passt sich dieser an beziehungsweise ergänzt sie auch. Daher auch die Bezeichnungen der Arbeiten: Einfügung, Anfügung, Zupassung, Aufbeugung, Bedrückung oder Abfügung. Der Körper formt unser Bild der Architektur und wird zugleich von ihr geformt.

 

»Ausgegangen bin ich von psychischen Zuständen, darum heißen die Fotos auch gemäß den Körperhaltungen, wie Einfügung oder Aufhockung. Die Frage war: Wie kann man eine innere expressive Haltung in einem städtischen Bereich über eine Körperdarstellung präsentieren? Welche Architektur ist wirklich für den Menschen gemacht?« (Steiner 1999, 40)

Literatur
Guggenberger, Sigrid (2013): Valie Export. Serielle Verfahren im Werk der Künstlerin, Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, chrome-extension://oemmndcbldboiebfnladdacbdfmadadm/https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/download/pdf/232524?originalFilename=true (abgerufen am 10.07.2023).

 

Löw, Martina/Geier, Thomas (2014): Einführung in die Soziologie der Bildung und Erziehung, 3. Aufl., Opladen: Verlag Barbara Budrich.

 

Löw, Martina (2012). Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

 

Löw, Martina (2005): Die Rache des Körpers über den Raum. Über Henri Lefebvres Utopie und Geschlechterverhältnisse am Strand, in: Schroer, Markus (Hrsg.): Soziologie des Körpers, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, S. 241-270.

 

Steiner, Silvie (1999): Eigen-Sinn und Gruppengeist, Künstlerinnen von 1945 bis 1999, in: PARNASS, Zeitschrift für Kunst, Architektur, Design, Fotografie, Musik, Theater, Literatur. Sonderheft 15, Wien: Parnass, S. 68-70.